Der Verlust der biologischen Vielfalt stellt den Naturschutz und die Politik seit Jahrzehnten vor große Probleme. Gleichzeitig verschwinden jene Menschen, die Arten sicher bestimmen können. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Die „Krefelder Studie“ von 2017 hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt: sie dokumentiert den massiven Rückgang der Insektenbiomasse (um 75 %) in Offenlandlebensräumen. Doch auch die Artenvielfalt an sich ist rückläufig und immer stärker bedroht. In Berlin sind zum Beispiel inzwischen fast die Hälfte aller Wildbienenarten gefährdet.
Nur was man kennt, kann man schützen
Zur gleichen Zeit können wir, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, eine „Erosion der Artenkenntnis“ beobachten. Es gibt immer weniger Expert*innen, die sich intensiv mit einer Artengruppe beschäftigen und die Arten unterscheiden können. Dieser Rückgang ist alarmierend, da nur Expert*innen in der Lage sind, die Gefährdung einzelner Arten einzuschätzen. Damit geht auch Wissen über die Lebensraumansprüche dieser Arten, ihre Lebensweise und in Folge adäquate Schutzmaßnahmen verloren.
Artenkenntnis ist auch essentiell für die Arbeit in Naturschutzbehörden, Grünflächenämtern, Planungsbüros und Garten-Landschaftsbau-Firmen. Gutachten müssen ausgewertet und Pflegemaßnahmen angepasst und umgesetzt werden, wenn die Pflege ökologischer gestaltet und die Artenvielfalt gefördert werden soll.
Darum verschwindet die Artenkenntnis
Die Erosion der Artenkenntnis geschieht aus mehreren Gründen. Einerseits werden entsprechende Lehrangebote an Universitäten seit Jahren abgebaut, sowohl im Haupt- als auch im Lehramtsstudium. So erwerben nicht nur Studierenden der Biologie kaum noch Artenwissen, auch angehende Lehrer*innen nehmen immer weniger Wissen mit in die Schulen. Auch fehlt es (noch) an außeruniversitären Kursangeboten, insbesondere in der Erwachsenen(weiter)bildung.
Andererseits hat sich das Freizeitverhalten, insbesondere der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, teils dramatisch gewandelt. Naturbeobachtung bzw. das Aneignen von Artenkenntnis stehen heute in ungleich größerer Konkurrenz zu anderen Möglichkeiten, seine Freizeit zu füllen. Hier fehlt es an attraktiven und langfristigen Angeboten für Nachwuchs-Artenkenner*innen. Das gemeinsame Lernen in Gruppen („Community“) und das Angebot von Mentoring-Programmen könnten geeignete Mittel darstellen, diese Lücke zu schließen.
Literaturhinweise
Am Thema interessiert? Hier finden Sie eine Auswahl deutschsprachiger Literatur zum Thema „Erosion der Artenkenntnis“.
Prof. Dr. Steidle J. (2023): Taxonomie – Was die Hochschulausbildung leisten muss. In: M. Eick, D. Baumgärtner (Hrsg.): Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten. Beiträge der Akademie für Natur-und Umweltschutz B.-W. 51–56.
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